Mein Dorf ist wunderbar. Mein Dorf, das eigentlich keins ist, sondern ein ehemals dörflicher, heute recht dicht besiedelter Vorort von Mainz. Man kennt sich hier in der Nachbarschaft, ist sich nicht immer grün, kabbelt sich gelegentlich ordentlich; ein paar Neue im Viertel, ein paar Langhierwohnende, das ist nicht immer spannungsfrei, aber immer unterhaltsam. Vor allem in dieser merkwürdigen Zeit zwischen Pandemie und allgemeinem Wahnwitz. Diese Zeit, die sich manchmal so anfühlt, als wate man knietief durch zähen Schlick und zerrte einen schwer beladenen Bollerwagen hinter sich her. In solchen Momenten weiß ich diese Mischung aus Stadt und Dorf sehr zu schätzen.
Aus dem Gartenmarkt hatte ich der Nachbarin von schräg gegenüber einen Beutel Meisenknödel mitgebracht. Oft stehen wir abends am Gartenzaun und hören dem Gezwitscher zu, tauschen Himbeeren gegen selbstgebackenes Brot und genießen das zwitschernd durchflatterte Grünzeug. Und dann stand ich da, mit dem Futter in der Hand. »Siiiiiiiiiiie! Was kriegen Sie dafür?« Nichts, vergessen Sie’s. Schönes Wochenende. »Nee, nee, nee. Ich stell Ihnen die wieder vor die Tür, wenn Sie mir nicht sagen, was Sie dafür kriegen!« Mit funkelnden Augen stand die alte Dame vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, überaus resolut mit ihren zierlichen 163 Zentimetern Größe. Sie wird demnächst 94, das und ihre Vorliebe für Amarula-Likör (den sie kürzlich meiner Mama zum Geburtstag verehrte) sind eine unschlagbare Kombination. Ich gab also klein bei, na gut, vierfuffzig, wenn’s denn sein muss.
»Ha! Thomas! Hast Du Kleingeld? Thoooooomas! … verflixt, wo steckt der Bengel denn schon wieder? Alla gut, ich bring Ihnen nachher das Geld rüber.« Das muss echt nicht sein … »Nix! Kein Widerrede! Wer den Pfennig nicht ehrt … kennen Sie ja.«, die Nachbarin verschwand im Haus. Überflüssig zu erwähnen: Besagter Bengel ist gleichaltrig mit mir, wir haben zusammen in der Kindergartensandkiste gesessen und uns in der Grundschule so einige Male wacker gerauft. Man kennt sich also lange, sehr lange. Und wie das dann mit den älteren Herrschaften so ist, mischt sich manchmal auch ein wenig Melancholie in die Gespräche am Gartenzaun oder die kleinen Kabbeleien, liegt ein Hauch Endlichkeit über dem Geplänkel.
Wenig später klapperte der Briefkasten. Ein an mich adressierter Umschlag lag darin, mit einem 5€-Schein und einem handschriftlichen Zettel. »Die 50 Cent sind Benzingeld.« Zwischen den Zeilen las ich das augenzwinkernde Lächeln der Nachbarin, der Zettel hängt jetzt an meiner Pinnwand und erinnert mich. An das Dorf, an die Verbundenheit nach all den Jahren, an kleine Dinge, die mir gerade viel bedeuten.