Damals, als ich über den Hof des alten Hauses im rheinhessischen Hinterland rannte, muss ich anderthalb oder zwei Jahre alt gewesen sein. Noch ein wenig wackelig zu Fuß, mit Kopftuch und warmer Jacke, irgendwann im Herbst oder im Frühling, schätze ich. Im Hintergrund auf der Bank sitzt meine preußische Omi, in Trauerkleidung. Es war nicht allzu lang her, dass ihr zweiter Mann beerdigt wurde, als das Foto entstand. Sie lachte über die Kapriolen ihres Enkelkinds, hat manchmal herzhaft mit mir geschimpft und so oft meine aufgeschlagenen Knie mit sanfter Hand verarztet.
Ich denke in letzter Zeit sehr oft an sie. Obwohl sie Anfang der 90er Jahre starb, ist sie mir gerade sehr nah, mit vielem, was sie mir mitgab. Als kleines Mädchen erlebte sie den 1. Weltkrieg, danach die große Weltwirtschaftskrise. Verlor in diesen turbulenten Jahren ihren Vater, an dem sie sehr hing. Und schlug sich mit kleinem Kind (meiner Mutter) und schwerkrankem Mann durch den 2. Weltkrieg, inmitten der Bombenangriffen auf ihre Heimatstadt Berlin. Legte sich mit den Nazis an, faltete mit ihrer resoluten Art russische Soldaten zusammen, die während der Evakuierung im brandenburgischen Keller ihre Familie bedrohten. Wickelte als ausgebildete Sängerin und Pianistin den russischen Kommandanten um den Finger, der erst wie ein kleines Kind weinte, als Omi ihm ein Lied vorsang. Es erinnerte ihn an seine Mutter, hat er meiner Großmutter erzählt, bevor er sich mit Handkuss von ihr verabschiedete. Ein, zwei Tage später brachte er Lebensmittel und eine Flasche Wodka. Omi hat den schneidigen Offizier buchstäblich unter den Tisch gesoffen; die mühsam gepflegte Zimmerlinde ging danach allerdings an einer Alkoholvergiftung ein. »Den Blindmacher hätte ich eh nicht angerührt«, schnaubte meine Großmutter.
Überhaupt war sie eine interessante Mischung aus Grande Dame und zupackend: »Man muss sich nicht auf manches Niveau hinab begeben…« pflegte sie mit hochgezogener Augenbraue zu bemerken, wenn ich als Teenager ein wenig über die Stränge schlug. Um lächelnd zu ergänzen: »Immer nur Dame ist auch langweilig, aber wo’s angebracht ist…«. Überhaupt, ihr Repertoire an Sprüchen war unerschöpflich. »’Geht nicht‘ gibt’s nicht und ‚kann nicht‘ ist grade aus.« war eine ihrer Maximen. Und statt zu jammern, packte sie an, verschaffte sich trotz damenhafter Contenance mit deutlichen, resoluten Worte Gehör, Freiräume und Grundlagen. »Erstmal Ärmel hochrollen und Schadensbegrenzung, hysterisch werden kannst Du später!« Mit dieser Haltung überstand sie so manche existenzielle Krisen – und hat mich damit sehr geprägt.
Ebenso wie meine Patentante Jutta übrigens, die Fast-Schwägerin meiner Großmutter. »Fast« insofern, als dass sie mit dem kleinen Bruder meiner Omi verlobt war. Kurz vor dem Ende des 2. Weltkriegs starb er in der Ukraine; die beiden Damen verloren sich in den Nachkriegswirren für eine ganze Weile aus den Augen. Wiedergefunden haben sie sich dann ausgerechnet in Mainz – die Ur-Berlinerin Ilse und Fräulein Jutta, die auf einem Rittergut in der Nähe von Breslau groß wurde, in Glogau zur Schule ging und mit einem der letzen Flüchtlingstrecks gerade noch Schlesien verlassen konnte. Auch sie hat mich sehr geprägt: Als gelernte Hauswirtschaftsmeisterin – was man in diesen Jahren so lernte als höhere Tochter – brachte Tante Jutta mir unter anderem den Umgang mit ihrer Nähmaschine bei. »Kind« seufzte sie oft, »wann bringst Du endlich gerade und feine Nähte zustande?«
Und da war dann noch die Lieblingstante. Marie, die jüngste Schwester des zweiten Mannes meiner Omi. Sie hat nie geheiratet und führte lange Jahre den Haushalt ihres Schwagers. Im Rheinhessischen, wo ich sie selbst als Kind nur zierlich und grauhaarig-verrunzelt mit Knoten im Nacken kannte. Dort, wo sich unsere Familienwege dann verbunden haben. In ihrem Küchengarten bin ich großgeworden, zupfte dort die frischen Möhren aus der Erde und die Radieschen. Zog meine Beute kurz durch die Regentonne, um sie direkt zu verspeisen, plünderte die Erdbeer- und Johannisbeersträucher. Und liebte Tante Marie innig; nicht nur, aber vermutlich auch wegen ihres wunderbaren Zwetschgenkuchens, den sie in ihrer Küche mit dem graugetupften Steinboden immer buk. Tante Marie brachte mir zum Entsetzen der Geistesmenschen in meiner Familie den Umgang mit Wetzstein und Sense bei. »So etwas muss man können!« meinte sie kurz und bündig, als man sie auf die für mich als unpassend empfundene Lektion ansprach.
Unterschiedlicher hätten die drei Damen nicht sein können; oft hatten sie ihre Meinungsverschiedenheiten und haben sich doch ganz wunderbar ergänzt. Meine Großmutter, die den Garten anlegte, den ich heute so liebe, weil er für mich Kraftort, Rückzug und Glücksquelle ist. Meine Patentante, die mir ihre Nähmaschine vererbte, ein Modell namens »Ideal Zickzack« aus dem Jahr 1961 mit Vollmetallgehäuse. Mit einigen Tropfen Nähmaschinenöl läuft das Fabrikat aus Fürth nach einigen Jahren Dornröschenschlaf im Keller ganz wunderbar; und ich nähe Masken für Freunde und Familie damit. Übrigens mit feinen, geraden Nähten, wer hätte das gedacht. Und das Gemüsebeet im Garten, das ich schon so lange anlegen wollte und jetzt endlich umgegraben und bepflanzt habe, folgt dem Wissen, das mir Tante Marie weitergab. Möhrensamen mit Sand und Zwiebeln gemischt (wegen Schädlingen), Reihen mit Radieschen daneben (damit man weiß, wo die Möhren zu finden sind). Und im ersten Jahr auch ein paar Kartoffeln dazwischen, für den lockeren Boden.
Ich vermute, die drei Damen aus Preußen, Schlesien und Rheinhessen sitzen jetzt gemeinsam irgendwo auf einer Wolke. Schauen schmunzelnd auf »das Kind« herab, wie sie mich immer liebevoll nannten. Und Ilse, meine Omi, stupst Jutta mit dem Zeigefinger an: »Siehste. Ich hab dem Kind immer gesagt: Leg Dir einen Gemüsegarten an. Das erdet und macht glücklich. Und gut schmecken tut’s auch.« Jutta, die Patentante, lächelt zurück und sagt mit ihrem leichtem schlesischen Dialekt: »Tja, guck mal, sie kriegt gerade, feine Nähte hin! Auf meiner Nähmaschine!«. Leise kichernd sitzt Tante Marie zwischen den beiden. Schaut zur einen, dann zur anderen. »Schau an, schau an. Sie pflanzt die Möhren so, wie ich’s ihr beigebracht habe. Und die Sache mit der Sense, die kann sie auch noch.«
Danke Euch von Herzen. Sowieso – und in diesen merkwürdigen, nicht immer einfachen Zeiten ganz besonders.
Juliane
1 Mai 2020Liebe Heike,
sei glücklich darüber, dass du deine Gedanken in so schöne Worte verwandeln kannst. Und deinen Lesern damit ermöglichst, den eigenen Erinnerungen zu folgen und sie ebenso zu genießen. Danke dafür. Juliane
Heike_Rost
2 Mai 2020Das bin ich, liebe Juliane – und das ist (auch) ein berufliches Tätigkeitsfeld. 😉
Friederike
1 Mai 2020Ach, ist das schön! Danke für’s Erzählen!
Heike_Rost
2 Mai 2020Dankeschön, liebe Friederike! Und da verweise ich doch von Herzen gerne mal auf Dein wunderbares Blog, das einen Besuch lohnt: https://landlebenblog.org … eine inspirierende Leseempfehlung <3