Brandenburgs Dörfer

Oktober 2015, unterwegs von Leipzig nach Berlin. Die Autobahn ist nach einem schweren Unfall gesperrt, deswegen bin ich hinter Niemegk abgebogen auf die Landstraße. Herbst in Brandenburg, das Wetter passt – unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel glüht das Laub der Bäume in allen Schattierungen von Feuer. Die Farben der Landschaft und Orte wirken wie aus einer anderen Welt, erinnern an die Beschreibungen Theodor Fontanes. Kopfsteinpflaster aus grobem Blaubasalt, »Katzenköpfe«, macht die Fahrt zu einer reifenrumpelnden Angelegenheit. Entlang der Strecke lassen die Dörfer und Städtchen Kindheitserinnerungen wach werden: Lattenzäune »mit Zwischenraum hindurchzuschaun«, so hätte Morgenstern sie beschrieben. Mal frisch gestrichen, mal windschief und verwittert, manchmal zerbrochen und umgestürzt.

Hinter ihnen breiten sich Bauerngärten neben, vor und hinter den Häusern. Teils verwildert, teils gepflegt, leuchtend vor späten Blumen. Jungfer im Grünen, ein paar Margeriten, zarte Cosmea-Blüten zwischen den Zaunlatten wippen leise im Wind. Bunte Zinnien, Dahlien, leuchtende Ringelblumen, späte Rosen. Und viele Obstbäume, deren Äste sich fruchtschwer der Erde entgegensenken. Äpfel, Birnen hängen als farbenfrohe Tupfer hoch oben, liegen als Fallobst im tiefen Gras und am Straßenrand. Nur noch wenige Häuser in diesen Dörfern sind bewohnt. Einige sind sorgfältig wieder hergerichtet, einige verfallen still vor sich hin. Viele der kleineren Gebäude stehen leer. Ihre blinden, staubigen Fenstern verraten: Das ist schon eine ganze Weile so. Mit heruntergelassenen Rolläden reihen die kleinen Häuser aus friderizianischer Zeit entlang der Dorfstraßen. Ab und an knarrt ein Fensterladen im Wind, als ob er seine Flügel vorsichtig erprobt, um der Leere dort zu entfliehen.

IMG_3186 Eigentlich wollte ich ein wenig durch eins dieser Dörfer schlendern, auf der Suche nach meinen Kindheitserinnerungen anderen Orts. Wollte Bilder machen, von der Kopfsteinstraße mit ihren verfallenden Häusern und verwilderten Gärten, Tonaufnahmen der Stille machen, die nur selten von Reifengerumpel auf dem Blaubasalt und ein paar Vogelstimmen gestört wird. Kaum bin ich aus dem Auto ausgestiegen, bewegt sich in einem Häusern mit den verkrusteten Fenstern sachte ein Vorhang. Ich habe niemanden gesehen, keine Hand, die den Vorhang zur Seite gezogen hat. Vielleicht war es nur ein Windstoß. Wenig später, als ich um die Ecke bog, wird mir klar: Das war kein Luftzug. Wie aus dem Boden gewachsen, steht ein Hüne vor mir, pflanzt sich breitbeinig vor mir auf , fuchtelt mit beiden Händen und brüllt mich an: »Was willst Du hier? Scheiß-Immobilien-Hai, elendes Dreckspack, verpiss Dich, sonst gibts auf die Fresse!« Nur kurz versuche ich zu erklären. Zwecklos, er hört nicht zu, hebt drohend den Arm. Für weitere Debatten ist mir der Mann eindeutig zu aggressiv.

Schaufenster in Jüterbog -  ©HeikeRost.com 2015 - Alle Rechte vorbehalten.Zurück zum Auto, weiter geht es, in die Kleinstadt Jüterbog in Brandenburg. Vor einigen Jahren, nach dem jahrzehntelangen Verfall, wurde der mittelalterliche Stadtkern umfassend saniert. Es ist eine Baustelle ohne Ende, von Häusern über Versorgungsleitungen bis Kanalisation wird im Städtchen immer noch gebaut und gebaggert. Eine Ringstraße umschließt die Häuser der Altstadt, wie auf einer Insel liegt in der Mitte des Ringes die wunderbare Nikolai-Kirche, deren schlanke Türme mit einem Backsteinbogen verbunden sind. Ich mag diese Kleinstadt, nicht nur, weil sie Schauplatz eines Märchens aus der Sammlung der Brüder Grimm ist. Auch, weil sie noch immer auf merkwürdige Art aus der Zeit gefallen scheint. Seit ich Jüterbog vor Jahren im Auftrag eines Kunden besuchte, um die Stadterneuerung zu dokumentieren, wollte ich immer wieder einen Zwischenstopp dort einlegen. Sie hat sich sehr verändert, die kleine Stadt. Geliftet, poliert und glattgebügelt ist sie; und zu bester Tageszeit, wenn anderswo die Straßen vor Geschäftigkeit brummen, ist die Altstadt wie leergefegt. So leer wie viele Wohnungen und Geschäfte, deren Fenster mit Plakaten zugeklebt sind oder schon so lange ungeputzt sind, dass man kaum noch einen Blick ins Innere der ehemaligen Läden werfen kann. In einem der Schaufenster hängen staubige Vorhänge, mit Spinnweben überzogene Fahrräder stehen dort. Und ein Plakat hängt hinter der Scheibe, man kann Rundfahrten mit russischen Geländewagen aus den Beständen der ehemaligen Sowjetarmee buchen.

IMG_3206Am sowjetischen Ehrenmal hinter dem Stadttor bleibe ich stehen. Kleine, graue Sandsteinobelisken, mit rotem Stern und kyrillischer Schrift bilden im kleinen Park am Dammtor eine merkwürdige, strenge Formation. Sie erinnert an insgesamt 42 Soldaten und Offiziere, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Jüterbog gefallen sind. Als ich einige Bilder mache, auf eine sonnige Lücke zwischen den Wolken warte, hupt es hinter mir plötzlich heftig und anhaltend. Beim Blick über meine Schulter bemerke ich einen Mann mittleren Alters, der sein Auto mitten auf der breiten Straße angehalten hat, in einigen Metern Entfernung zu mir. Anscheinend steht er schon eine Weile dort und hat mich beobachtet. Dann lässt er die Seitenscheibe herunter und brüllt mich mit hochrotem Kopf an: »Du elende Schlampe, was hast du da zu suchen, was fotografierst Du da? Hau ab, aber schnell, sonst mach ich Dir Beine! Willst wohl auskundschaften zum Einbrechen!« Eine Schimpfkanonade übelster Ausdrücke folgt. Die Besatzung des Polizeiautos, das kurz hinter dem Auto gestoppt hat, schert sich weder um tobenden Brüller, noch um die Verkehrsbehinderung in der schmalen Straße. Die Polizisten fragen mich: nach meinem Personalausweis, warum ich fotografiere – und legt mir in scharfem Ton nahe, besser zu gehen. Anscheinend machen Kamera, Lederjacke, Sonnenbrille und »offensichtlich ortsfremd« einen zur verdächtigen Person. Immerhin waren die beiden uniformierten Herren geringfügig freundlicher als die anderen beiden Brüller.

IMG_3195Den Spaziergang durch die Altstadt habe ich dennoch abgekürzt. Es hat nicht am eisig kalten Wind gelegen, dass mir die Lust auf weiteres Flanieren gründlich vergangen ist. Eigentlich wollte ich die Kirche besuchen; und fragen, ob es möglich ist, auf den Turm und die Backsteinbrücke dazwischen zu steigen. Der Blick von dort oben über die Stadt ist beeindruckend, ich hätte gerne fast 20 Jahre später noch einmal die wunderschöne Aussicht genossen. Trotz der warmen Herbstsonne war mir innerlich kalt angesichts dieses übergroßen Misstrauens und dieser unerwarteten Aggression. Nur wenig später las ich, dass in Jüterbog das Jugendzentrum neben der Nikolai-Kirche verwüstet wurde. Es sollte ein Ort der Begegnung zwischen Jugendlichen und Flüchtlingen werden, war frisch renoviert. Unbekannte haben dort nur wenige Stunden nach einem Umzug der rechtsextremen NPD mehrere Sprengkörper gezündet, möglicherweise Böller. Jetzt ist das Haus unbenutzbar, die Zwischendecken sind zum Teil schwer beschädigt und eingestürzt, Fenster, Türen und Möbel durch die Wucht der Explosion geborsten.

Zwischen Jüterbog und Berlin, in den menschenleeren Dörfern Brandenburgs, habe ich auf dem Weg nach Berlin noch einige Zwischenstationen eingelegt. Es war eine Reise, die mich nachdenklich gemacht hat. Sehr nachdenklich: Denn der Satz »Das Boot ist voll!« klingt mir in den Ohren, der so oft von denen geäußert wird, die gegen Flüchtlinge hetzen. Die verstummten, einsamen Dörfer, ihre vielen verwaisten Häuser erzählen eine ganz andere Geschichte. Eine, in der das Boot keineswegs voll ist. Eine Geschichte von Siedlungen, die von ihren Bewohnern verlassen werden, weil vor allem eines fehlt: Arbeitsplätze. Es sind Dörfer und kleine Städte, die vielleicht irgendwann von der Landkarte verschwinden werden, weil niemand mehr dort lebt und leben möchte. Die Alten sterben weg, die Jungen sind schon fort. Sehr viel Platz wäre für sehr viele Menschen, denen diese zunehmend leerer werdenden Regionen ein Zuhause werden könnten. Die Felder, die teilweise brachliegen, die verwilderten Gärten mit den Obstbäume, die nicht mehr abgeerntet werden: Für wieviele Menschen wäre wohl das ein kleines Paradies, eins ohne Flugzeuge und tägliche Bedrohung durch Krieg und Bomben.

Diejenigen, die nach der Wende blieben, habe ich auf meinen Touren dort oft  sehr misstrauisch und enttäuscht erlebt. Vielleicht haben sie sich ein anderes Leben erhofft und es doch nicht gefunden, allen Träumen zum Trotz. Die Arbeitslosenquote in den ländlichen Regionen der ehemaligen DDR ist groß, die Menschen sind weg gezogen. Dorthin, wo Arbeit ist. Bis auf einige wenige, deren Scheitern und Enttäuschung ihnen in die Gesichter geschrieben steht, in harten Linien, mit hängenden Mundwinkeln und Armen. Und da ist noch die bedrückende Leere der Dörfer: kilometerweite Fahrten bis zum nächsten Supermarkt, kaum öffentliche Verkehrsmittel, viele Löcher im mobilen Netz. Eine Welt für sich, in der das Nichts einen dort fast erdrückt. Landschaft, leere Straßen und verlassene Häusern, ein trauriges Niemandsland, dessen Stille nicht immer Erholung bedeutet, nicht gleichzusetzen ist mit Idylle und einer vagen Vorstellung von wiedergefundener Kindheit und Glück. Das Schweigen und die Öde dort sind seltsam tot und kalt. Ganz besonders dann, wenn man als Fremder dort unterwegs ist. Wenn man buchstäblich stolpert über Misstrauen und Angst, einem Aggression und Ablehnung so offen entgegenschlagen.

Kurz nach Öffnung der innerdeutschen Grenze war ich für einen Auftraggeber in vielen kleineren Städten der ehemaligen DDR unterwegs, Stadtplanung und Erneuerung dokumentieren. Ob in Görlitz, Dahme, Rosslau, Frankfurt an der Oder oder Guben: Selten sind mir so viele Menschen begegnet, die ihrem Misstrauen der Kamera und mir gegenüber teils auf erschreckende Art, mit merkwürdigen Unterstellungen und großer Aggression Ausdruck verliehen haben. Nicht immer waren das verbale Entgleisungen, oft genug bin ich knapp tätlichen Angriffen entkommen. Nach der Fahrt über die brandenburgische Landstraße, an der entlang einige der Stationen meiner früheren Nach-Wende-Tour liegen, komme ich mit einem beklemmenden Eindruck zurück: Die Atmosphäre, die mir Anfang der 90er Jahre allenfalls Unbehagen bescherte, wenn ich allein durch wie ausgestorben wirkende Dörfer und Städte lief, fotografierte und oft angepöbelt und manchmal offen bedroht wurde, ist immer noch da. Und ist vielerorts greifbarer, bedrückender und offensichtlicher geworden.