Sainte Victoire und das Licht

Als meine Leidenschaft für Photographie begann, war ich unterwegs in die Provence. Bevor die Autobahn wieder bergab führt Richtung Nîmes, hielt ich auf der Kuppe des letzten Hügels an. Versunken in die Aussicht, für eine ganze Weile, atemlos schweigend: Der Blick schweift über die Ebene und bis fast zum Meer. Man ahnt es im Dunst am Horizont, sehen kann man es noch nicht. Lichtdurchflutet, in unwirklicher Klarheit, ist jedes Detail der Landschaft zum Greifen nah. Ein überwältigendes Panorama…

Sehen, schauen, erleben, unzählige Male gemalt, immer wieder neu und überraschend sind die Werke der vielen Künstler, jedes einzelne ihrer Gemälde ein Porträt – des Lichts. Die kahlen Felsen von Les Baux, der künstlichen Ruinenstadt: Wenn man sich über ihre glühend heißen Mauern beugt, tönt einem aus den Sträuchern und Bäumen im Tal das ohrenbetäubende Zirpen der Zikaden entgegen. La Montagne St. Victoire, das Gebirge mit seinem eigentümlichen Licht, schillert in unwirklichen Schattierungen – und sieht niemals gleich aus. Maler kamen, gingen wieder fort, kehrten zurück, berauscht und angezogen von funkelnder Luft unter mediterraner Sonne, die aus den winzigsten Dingen üppige Farben hervorlockt, zu einem Kaleidoskop aller Schattierungen zusammenfügt und die blühenden Lavendel- und Rosenfelder gleichsam schweben lässt.

In der Landschaft, auf den Gegenständen und Straßenpflastern verwandelt sich allgegenwärtige Farbe zu plastischer Substanz, als könne man sie greifen und das Gesehene zu Neuem formen, mit den Händen, wie ein Töpfer auf seiner Drehscheibe. Licht und Schatten tanzen miteinander, zwischen den schlanken Säulen des Kreuzgangs von Saint Trophime in Arles, über dem Étang de Vaccarès mit seinen rosigen Wolken aus Flamingos. Zwischen antiken Steinen von Straßen, Viadukten und Amphitheatern malt das Lichtspiel Geschichten vergangener und heutiger Tage in den Sand, auf Häuserwände und Kopfsteinpflaster.

Sehen, spüren, erleben, gleichzeitig in Wortlosigkeit versinken … und verstehen: Das Licht. Seine Farben. Seine Stille. Die Provence und ihre Künstler sind schuld an meiner Liebe zur Photographie, die mich nie wieder los gelassen hat. Noch immer bin ich viel unterwegs. Mit konzentrierterem Blick, vielleicht eine Frage von Zeit und Jahren, meine Bilder werden unprätentiöser und immer unspektakulärer. Leiser. Meine Abneigung gegen allzuviel rechnergenerierter Abbildung wächst zunehmend. Wozu künstlich erschaffen, was so berauschend, berückend, üppig und verführerisch ist? Weshalb definieren, was kein »richtig« oder »falsch« braucht? Das Licht ist.

Henri Cartier-Bresson nannte Schärfe ein »bourgeoises Konzept«. Makellose Perfektion und Glattheit vieler Photographien lassen ahnen, dass die assoziative Kunst der Betrachtung, die Fähigkeit des Spürens von Bildern und die Präzision des Blicks schwinden – und mit ihnen emotionale Kraft und Tiefe. Peter Handke nähert sich in seinem wunderbaren Buch »Langsame Heimkehr: Die Lehre der Sainte Victoire« auf beeindruckend einfühlsame Weise dem Künstler Paul Cézanne. Die literarische Geschichte gehört eigentlich zur photographischen Grundausstattung: Als Lektüre über einen Meister des Bildes, vor allem aber seine unbändige, leidenschaftliche Lust am Sehen – inspiriert durch die karge provençalische Gebirgslandschaft, durch die das Licht flutet.

Photographie, das heißt für mich: »Eine Welt in einem Sandkorn zu sehen und einen Himmel in einer Wildblume, die Unendlichkeit in der Hand zu halten und die Ewigkeit in einer Stunde.« (William Blake)

Weiterführende Links:

Peter Handke, »Langsame Heimkehr: Die Lehre der Sainte Victoire«
La Montagne Sainte Victoire (Wikipedia)
Paul Cézannes Bilder: La Montagne Sainte Victoire