Zbigniew, das Hähnchen

Oft genug bot sein Name Anlass für Spötteleien: Freundlich „Hähnchen“, unhöflicher schon „Gockel“, ganz und gar unfreundliche Menschen übersetzten »Kurczak« in noch gröberer Weise. Kein freundlicher, sondern ein knurriger Rentner in Neukölln, mit polnischen Wurzeln, das war Zbigniew, kurz nach dem Krieg in Berlin gestrandet. Dort hat er neue Wurzeln geschlagen – und ist geblieben, in dem großen alten Haus, das den Krieg fast unbeschadet überlebte, um in den Jahren danach langsam vor sich hin zu rotten. Das »Hähnchen« war dort Hausmeister, mit bulliger Statur, meist schlecht gelaunt und immer übersprudelnd von Geschichten: Aus dem Krieg, seiner Zeit als Jagdflieger, vom Leben zwischen Ruinen und Bombentrichtern. Täglich kehrte er das Trottoir vor dem Haus, zwischen einzelnen Besenschwüngen blickte er versonnen vor sich hin. „Ach …!“ Ein gebrummelter Frauenname flatterte durch die Luft, immer wieder ein anderer, dann beredtes Schweigen, ein tiefer Zug am Stumpen Marke „Deutsche Jagd“. Eine Rauchwolke malte stinkende Kringel in die Luft. Der Besen kratzte wieder in gleichmäßigem Takt über das Pflaster, Zbigniew klemmte energisch den Stumpen in den Mundwinkel, das Echo seiner tappenden Schritte hallte im Hausflur.

In regelmäßigen Abständen war er in der Kneipe gegenüber zu Gast. „Das größte Schnitzel von Berlin!“ prangte in Kreideschrift auf einer Tafel am Fenster, „Zehn Buletten für 5 Mark!“ auf einem anderen Schild ein Fenster weiter. „Molle und Korn zweefuffzich!“ dröhnte der stämmige Wirt, wenn er dem Hähnchen das frisch gezapfte Glas auf den Tisch knallte. Stunde um Stunde saß Zbigniew dort, manchmal in Sonntagskleidung mit Anzug, gestärktem Hemd und Krawatte, das schüttere Haar sorgfältig mit Frisiercreme und Haarspray in Form gebracht, eingehüllt in eine Dunstwolke billigen Rasierwassers. Meist einsam und in sich versunken, ab und an eingekeilt zwischen späten Gästen, selten in weiblicher Begleitung, Frauen mit schmalem Lächeln in einem verblühten Gesicht, mit üppigem Dekolleté, blondierter Dauerwelle und Sonnenbankbräune. Mit schrillem Lachen, zuviel Talmi-Schmuck an Händen, Ohren und um den Hals. Immer schwadronierte das Hähnchen in deutsch-polnischem Wortschwall, bei zunehmender Trunkenheit immer lauter, zorniger und unverständlicher. 

Mit seinen Pranken hieb Zbigniew donnernd auf die blankgescheuerte Tischplatte, brüllte, schrie, lachte bisweilen unter Tränen, keiner vermochte seine wirren Worte zu verstehen. Vom Wirt unsanft vor die Tür befördert, torkelte er nächtens heim, winkte den hupenden Autofahrern mal fröhlich, mal beschwichtigend zu. Fluchte polnisch und lautstark beim Versuch, die Wohnungstür aufzuschließen: Wieder und wieder verfehlte der winzige Schlüssel in Zbigniews Riesenhänden das Schloss, hinterließ mit der Zeit tiefe Kratzer und Schrunden im Holz. „Kurwa!“, Hurenstück, dröhnend fiel die Haustür zu, schleppenden Schritts taumelte der trunkene Hüne über die Straße, zurück in seine Stammkneipe. Auf der Suche nach Beistand und Freunden,  zeternd, krakeelend, lachend und manchmal tränenüberströmt flehend. Der Wirt erbarmte sich gelegentlich seiner: Packte mutig das Hähnchen an der Schulter, das ihn turmhoch überragte, schloss ihm die Türe auf, schob den Riesen über die Schwelle, warf den Schlüssel hinterher und die Tür knallend ins Schloss. Ein, zwei Tage später tauchte Zbigniew dann wieder auf, nüchtern, reichlich angeschlagen, wieder ganz pflichtbewußter, hilfreicher Hausmeister.

Manchmal neigte das Hähnchen zur Pedanterie: Nichts hasste er so sehr wie Fahrräder, die verbotener Weise im Hausflur abgestellt wurden, dem großen Schild zum Trotz und dem Hausmeister zuwider. Schimpfend und schwitzend trug er sie in den Hinterhof, um sie scheppernd an die efeuüberwucherte Wand zu lehnen. Eines Tages führte ausgerechnet mein Fahrrad zu einer denkwürdigen Begegnung mit meinem Nachbarn Zbigniew. Sehr in Eile, stellte ich damals das Fahrrad in den Flur, um ein vergessenes Buch zu holen. Als ich außer Atem aus meiner Wohnung zurückkehrte, stand das Hähnchen, das wohl irgendwo auf der Lauer gelegen hatte, bereits im Hausflur; bekleidet mit einem viel zu engen Achselhemd, das über dem stattlichen Bauch spannte, und knielangen, völlig ausgeleierten Feinrippunterhosen. Beides mit undefinierbaren Flecken und zahlreichen Löchern, dazu Socken in zweifelhaftem Zustand, aus denen die Zehen hervorlugten. Keine Schuhe an den Füßen, die bloßen Arme und Beine bedeckt mit Blutergüssen, die von einigen Stürzen während der letzten Sauftour stammen mochten, mein Fahrrad in seinen Riesenpranken. Und um den Sitz der Frisur aus spärlichem Resthaar mit viel Haarspray darin nicht zu gefährden, hatte Zbigniew sich das zurecht geschnittene Stück einer Feinstrumpfhose über die Haare gezogen und dessen Enden säuberlich unter dem Kinn verknotet.

Bei diesem Anblick sackte ich damals Tränen lachend langsam am Türrahmen zusammen und rang um Fassung. Zbigniew stand einen Moment wie vom Donner gerührt, ließ dann das Fahrrad fallen und flüchtete Türen knallend in seine Wohnung. Immerhin: Nach dieser Begegnung verzichtete er auf weitere Versuche, mich zu sonntäglichem Frühstück einzuladen. Und mein Fahrrad hat er für alle Zeit in Ruhe gelassen.