Boule Bretonne

Die mächtige Stadtmauer rund um Intra-Muros, die Altstadt von Saint Malo, ist immer wieder ein Lieblingsplatz. Zwischen den klotzigen Steinwällen und dem Fähranleger versammeln sich allabendlich die Boule-Spieler. Sie sind eine unglaubliche Ansammlung der Skurrilität auf zwei Beinen: Das gallische Dorf lebt, das Albert Uderzo und René Goscinny so liebevoll verschroben in ihren Comics verewigten. Genau hier debattieren Methusalix und seine Freunde die kniffligen Fragen angemessener Wurftechnik für die bunten Kugeln. Sorgfältig sind dicke Nägel in die Ritzen des Mauerwerks geklemmt. Nicht nur improvisierte Garderobe und Aufbewahrungsort für Jacken und Mützen aller Formen und Farben, sondern auch als Befestigung für ein Zählbrett. Penibel wird der Punktestand der Partie Boule Bretonne festgehalten. »Nous«, »wir« auf der einen, auf der anderen Seite leicht despektierlich „Eux“, »die« für die gegnerische Mannschaft.

Durch die Zahnlücken der betagten Boulespieler genuschelte Gespräche verwehen im Wind. Ein älterer Herr kommt später dazu, auf einem klapprigen, verrosteten Fahrrad strampelt er über den Gehweg. Er ist aus der Puste und schnauft, leise rasselt die Fahrradkette am Schutzblech entlang. Am Lenker baumelt rechts die Tüte einer Supermarktkette. Weinflasche und ein Baguette lugen hervor, genau die richtige Verpflegung für eine Partie Boule im Abendsonnenschein. Links am Lenker zappelt eine gestreifte Plastiktasche mit zwei Ohren, flauschigem Fell und Knopfaugen: Der vierbeinige Pudelspitzirgendetwasmischling kläfft munter vor sich hin und die grundlegende Frage des Tages lautet: »Rollen oder werfen?«

Wehe dem ortsunkundigen Besucher, der des Morgens die noch verlassenen Bahnen für eine gepflegte Runde Kugelschubsen nutzen möchte: »Strictement reservé à la Boule Bretonne!« verkündet ein sorgfältig handgemaltes, Holzschild an jeder Bahn. Man muss sie einfach lieben in all ihrer Verschrobenheit, die bretonischen Boulespieler, es bleibt einem gar nichts anderes übrig. Insbesondere dann, wenn sich Madame, eine freundliche ältere Dame mit stahlblaugrauer Wasserwellenfrisur zu den Herren verirrt. Die einzige Frau in der Herrenrunde genießt hohen Respekt. »Madame«, anders wird sie kaum angeredet. Und ab und an bringt ihr einer der Herren Blumen mit, die er – ganz comme il faut – mit charmantem Lächeln, tiefer Verbeugung und angedeutetem Handkuss überreicht.

Trotz Gehbehinderungen, gebeugter Haltung und diverser Zipperlein schieben die betagten Herrschaften fast täglich und unermüdlich die Kugeln durch die Gegend. Und es beschleicht einen der gleiche, leise Verdacht wie bei der Lektüre der Todesanzeigen in den bretonischen Tageszeitungen: Offenbar trägt die gemächliche Lebensweise zwischen Rollen oder werfen dazu bei, steinalt zu werden. Die Zahl derer, die weit jenseits der 90 Jahre »survenu«, »disparu« oder profan »mort« sind, ist beträchtlich. In der Minderheit sind ganz klar diejenigen Bretonen, die unter 60 sterben; den Anzeigen ist zu entnehmen, dass meist schnöde Zivilisationskrankheiten oder Unfälle im Straßenverkehr unter Einfluss regionaler Genussmittel wie Pastis und Calvados daran schuld sind.

Die Sache mit dem beträchtlichen Lebensalter mag auch daran liegen, dass die Bretonen zu den absonderlichsten Jahreszeiten und Witterungsbedingungen im Meer zu schwimmen pflegen. An der Strandpromenade vor dem Yachthafen watet allmorgendlich eine rüstige Dame mit stoischer Gelassenheit in die Fluten. Bei einer geschätzten Außentemperatur von ungefähr 10 Grad und einer Wassertemperatur von maximal 8 Grad schwimmt sie vor der Plage des Bas Sablons hin und her. Eine halbe Stunde, jeden Tag, sommers wie winters. Dann steigt Madame völlig ungerührt, mit perfekt sitzender Betonfrisur wieder aus dem Meer. Einen Moment bleibt sie an der Promenade sitzen, eingehüllt in den mitgebrachten Bademantel. Aus dessen Taschen klaubt sie ein Päckchen Gitanes und zündet sich genüsslich eine Zigarette an. Ein paar tiefe Züge, dann verschwindet Madame in einem der Häuser an der Strandpromenade. Der Hausarzt des kleinen Ortes leidet wahrscheinlich an schweren Depressionen: Die mittlerweile 85jährige Seniorin ist dank eines Immunsystems wie ein kanadischer Grizzly geradezu ekelerregend gesund…