Sprachbilder, Bildsprache …

Die Welt der Bilder ist für mich immer eng mit Sprache verknüpft, ebenso mit anderen Sinnesebenen: Gerüche, Klänge, Erlebtes, Er- und Gelesenes formen meine Wahrnehmung, mein Sehen. Der Rhythmus mancher architektonischer Linienführung lässt mich in Gedanken Musik hören. Manchmal sind auch einzelne Farbtupfer in monochromer Umgebung ein Kontrapunkt zwischen Bach und Keith Jarrett. So wie das einzige rotgefärbte Blatt, das sich zwischen Ranken und Graffiti dem Winter verweigert. Eine Reihung von Bögen an einem Gebäude der Renaissance, unterbrochen von Ornamenten, endet in den klaren Linien eines Portals; Bilder, wie zusammengefügt aus Kadenzen und Trillern, mit Schlussakkord und Paukenschlag.

Am Tag vor den Anschlägen auf Charlie Hebdo und den Supermarkt aus Paris zurückgekehrt, begann ich kurz danach, Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« zu lesen. 50 Seiten zähen Einstiegs und einige Zweifel später versank ich in dem Werk wie schon länger nicht mehr in Literatur. Gefesselt von Parallelwelten, Gedankenmäandern und Querverweisen, wie ich sie liebe, ob in Büchern oder in Konversationen: »Dieses Buch hat Krallen!« hätte Kafka dazu sagen können. Manche Gedankenbilder des misanthropischen Schriftstellers verfolgen einen für längere Zeit. Selbst dann, wenn das Buch schon wieder im Regal steht, wandern die Gedanken zurück, sammeln Schnipsel und Versatzstücke ein, kombinieren, puzzlen, erkennen und bewerten neu.

Oft ändert sich im Nachhinein die Perspektive auf bereits Gesehenes und Photographiertes, entwickelt ein verblüffendes Eigenleben. Ein Sonntagsspaziergang entlang der Seine-Quais in Paris war der Anfang. Ich staunte über die Statue des Marquis de Condorcet, gefangen in eigentümlicher Umgebung aus Baucontainern vor antiken Häusern. Haussmann im Hintergrund, Neuzeit im Vordergrund, eine präzise Konstruktion, die mich an die mathematischen Abhandlungen Condorcets denken ließ. Die grünlich-blaue Farbigkeit wiederholte sich in den Dächern der alten Häuser und den Schatten der Bronzefigur. Wie hätte das wohl der Marquis betrachtet, der nicht nur über Zahlen, sondern auch ein Wahlrecht für Frauen schrieb und dessen Standbild eher nachdenklich auf die vorbeilaufende Frau zu blicken schien?

Zurück zum bronzenen Marquis de Condorcet: Der Blick ins Archiv war verbunden mit einer ganz anderen Erinnerung an das letzte Werk des Philosophen, »Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain«. Kurz vor seinem Tod skizzierte Condorcet den Fortschritt des menschlichen Geistes im Lauf der Geschichte – und verortete alle Tyrannei in mangelnder Bildung. Welche Parallele zu vielen aktuellen Debatten um Gewalt und Extremismus! Was läge also näher, eine Originalausgabe des Werks zu kaufen? Immer wird der Bücherstapel ergänzt vom Buchregal im Kopf. Wie von einer neugierigen Hand angestupst, purzeln auch bereits gelesene Werke heraus, angeschubst von Bildern, von ganz anderer Lektüre. Huysmans gehört dazu, der über sein so facettenreiches wie aus Überfluss wert-loses Leben schrieb und sich zuletzt der Religion unterwarf. Wie Houellebecqs »François« war Huysmans auf der Suche nach Maßstäben, Einfachkeit und Halt in einer komplexen Welt, die alle Optionen und grenzenlose Wahlmöglichkeiten bietet – und an genau diesem Überfluss scheitert. Endstation Sehnsucht, eingefangen im sehnsüchtig hypothetischen Schlusssatz Houellebecqs: »Er hätte nichts zu bereuen.«

Aus den gesehenen, photographierten, erlebten, erinnerten und er-lesenen Bildern entsteht Neues, ein Puzzle aus Sprache und Bildern wird visuelle Erzählung und Geschichte. Das »Wandeln zwischen den Welten« ist Bereicherung, Denken und Sehen ergänzen sich; bei den Ausflügen in die Ausschließlichkeit einer einzelnen Hemisphäre fühlt sich das an wie »nach Hause kommen«.

Man sagt Photographen oft nach, dass sie in der Welt der Sprache nicht wirklich zuhause seien und ihre Bilder nur  bloßes Abbild der Realität blieben, eingefangen in einem reflexhaften Zusammenspiel der Augen und des Fingers am Auslöser, hoffentlich im richtigen Moment. Das Abbilden überlagere die Worte und Wörter, viel mehr noch: es bedürfe selten der eigenständigen Gedanken. »Mach einfach nur ein Bild«, heißt es dann, »Du bist doch Photograph(in)!«