Pastis Breton

Ein hinreißender Ort wäre das alte Generalshaus in der Bretagne gewesen: für einen Krimi, ein Psychodrama oder einen Film mit rabenschwarzem Humor. Damals, als ich dort einen Freund besuchte, verwitterte das Gemäuer hinter hohen alten Hecken still vor sich hin. Die Mauern umwuchert von fast mannshohen Hortensienbüschen aller Farben, deren üppige Blütendolden in der Sonne leuchteten. In einem winzigen Ort im Finisterre gelegen, jenem windumwehten, äußersten Westzipfel der Grande Nation, wo sich nicht einmal mehr Hase und Fuchs Gute Nacht sagen und gelegentlich ein U-Boot im Meer vorbeidümpelt.

Vor allem die Küche der Villa war beeindruckend; ihre Ausstattung mit gusseisernen, von jahrzehntelangem Gebrauch ausgeglühten Brätern und Pfannen verriet die Vorliebe der ehemaligen Bewohner für genussvolle Kochexperimente. Einer Vielzahl exzellenter Geräte und Messer fanden wir dort in Schubladen und Kästen vor und setzten die Tradition des Hauses gemeinsam fort: Mit Henris wunderbarem Muschelrisotto, phantasievollen Kreationen aus frisch gefangenem Fisch, knusprigem Baguette und starkem, schwarzen Kaffee zum späten Frühstück. Henri hatte dort einige merkwürdige Besucher um sich geschart, deren Geschichten ein aberwitziges Kaleidoskop voller Wirrwarr und Verwicklungen zwischen unglücklicher Liebe, Eifersüchteleien und zerplatzten Träumen boten.

Die bunte Truppe war durchaus unterhaltsam, ging aber glücklicherweise oft ihrer leicht manisch-depressiven Wege und feierte abends ausgelassene Gelage in der riesigen Küche, begleitet von exquisiten kulinarischen Kompositionen auf Haute-Cuisine-Niveau. So unvergessen wie legendär blieb mir ein Abend im Gedächtnis, im Salon des Hauses mit schweren Samtportieren vor den Fenstern, mit antiken Ledersofas unglaublicher Dimensionen und einem beeindruckend großen Kamin. Nicht nur Benjamin Biolay und die Chansons von Serge Gainsbourg spielten eine tragende Rolle, sondern auch zwei Liter-Flaschen Pastis der Marke „51“ aus dem Supermarkt „Rallye“ in Brest.

Mit einem Kübel Eiswürfel, Wasserkaraffe und einem Stapel CDs saßen Henri und ich damals im Wohnzimmer vor dem flackernden Kaminfeuer. Draußen pfiff der eisige Wind ums Haus, rüttelte an den Fensterläden und am Dach, ließ die hohen alten Bäume im Garten knarren und ächzen. Die restlichen Besucher hatten es vorgezogen, umwabert von süßlichen Rauchschwaden, ihre Zimmer aufzusuchen. Henri und ich ergriffen die Flucht vor soviel merkwürdiger Stimmung, verbarrikadierten uns im Wohnzimmer, tief in die gigantischen Sofas versunken. Diskutierten in Wolldecken gewickelt über dies, das und auch über jenes, über Musik und Literatur; philosophierten über die Liebe, das Leben an sich und »42«, rauchten die ein oder andere Schachtel »Gauloises maïs«.

Gelegentlich setzte sich Henri an das Klavier, griff schwungvoll in die Tasten, mit rauchknarrender Stimme back to the Blues. Später dann nicht nur „Bonnie et Clyde“, sondern ein Parforce-Ritt durch die Chansons von Gainsbourg, deren Texte wir in zunehmender Pastis-Beschwingtheit übersetzten. Versanken gemeinsam in tiefes Schweigen: Nicht, weil es nichts zu sagen gegeben hätte, sondern weil Worte schlicht schwierig (der Pastis!) und irgendwann auch überflüssig waren (der Pastis!).

Verblüfft stellten Henri und ich lange, lange später fest, dass wir tatsächlich nicht nur kein Auge zugetan hatten, sondern auch nebenbei und völlig unbemerkt beide Flaschen „51“ geleert hatten, was auf ein beachtliches Stadium von Trunkenheit schließen ließ. Einträchtig haben wir damals beschlossen, den Rest des Tages lieber im Liegestuhl im Garten zu verbringen: Wer jemals nach einem satten Pernod-Rausch Wasser getrunken hat, weiß, wie übel der Nachhall des grünen Gesöffs sein kann. Der Rest des folgenden Tages bestand aus dösender Trägheit, lesend, mit Sonnenbrille bewaffnet und einem Eisbeutel gegen die bohrenden „51“-Kopfschmerzen. Und der schräge Abend mit Henri (der im richtigen Leben nicht Henri heißt…) gehört in die Schachtel „Lichtmalerins Lieblingsmomente“: Wegen der Musik, wegen der Inspiration und wegen der zwei Flaschen „51“, was ich weder vor diesem Abend noch seither jemals wieder schaffte. Pastis konnte ich übrigens für geraume Zeit weder riechen noch trinken.

Was ich im Nachhinein und nach all den Jahren immer noch bereue: Dass ich damals meiner kurzen, kleptomanen Anwandlung nicht nachgab. Die wunderschönen, uralten Messing-Boules blieben an ihrem angestammten Platz im Generalshaus.

Serge Gainsbourg und seinen wunderbaren Song »Bonnie et Clyde« gibt es hier:

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