Anna und Manolis

Anna und Manolis - ©HeikeRost.com
Anna und Manolis – ©HeikeRost.com

Anna und Manolis aus Keratòkambòs, einem kleinen Ort an der Südküste von Kreta, waren weit über 80 Jahre alt, als ich sie kennenlernen durfte. Ihr Leben lang haben sie hart gearbeitet, zogen im winzigen Häuschen mehrere Kinder groß. Bescheiden, freundlich und fast immer mit einem Lächeln pflegten sie die kretische Gastfreundschaft, die „xenophilía“: Eine Handvoll in Zuckersirup eingelegter Trauben, ein Gläschen Raki, ein griechischer Kaffee aus winzigen Tassen für die unverhofften Besucher aus Germanija. Ein gemütlicher Plausch im Schatten, mit Händen und Füßen, ein paar Brocken Deutsch, die Herzenswärme der beiden, ihr Lachen und die gute Laune überbrückten alle Verständigungsschwierigkeiten. „Tanzen? Hast Du gesagt … tanzen?“ liess Nikos Kazantzakis seinen Alexis Sorbas sagen. Er mag die Vorbilder für den großen Griechen der Literatur in den kleinen Dörfer des kretischen Hinterlandes getroffen haben. Dort, wo Armut und Großherzigkeit, bescheidene Lebensumstände und übersprudelnde Lebensfreude untrennbar sind. 

„Annaki mou“ nannte Manolis seine Frau zärtlich, „mein Annalein“, klapste ihr im Vorübergehen sanft und scherzhaft auf den Allerwertesten. Sie war eher schweigsam, seine Annaki. Aber ihr liebevolles Lächeln und ihr Augenzwinkern erzählten eine ganze Geschichte über die beiden, die sich schon als Kinder kannten und ihre Heimat nie verlassen haben. Manolis hat Anna gepflegt, während ihres allmählichen Dahinschwindens nach langer Krankheit. Als sie starb, hielt er ihre Hand. So, wie er es in über siebzig gemeinsamen Jahren so oft tat. Nach der Arbeit, am Ende des Tages. Nie klagte er darüber, wie sehr sie ihm fehlte. In seinem Gesicht sah man es, die Falten wurden tiefer und sein Lächeln seltener. Fast täglich lief Manolis nach Annas Tod die Steilstrecke ins Nachbardorf, zu seiner Tochter und ihrem Mann. Brachte Weintrauben aus seinem kleinen Garten in deren Taverne, trank dort seinen Kaffee, aß eine Kleinigkeit. Und wanderte durch die Oliven- und Orangenhaine wieder hinab, nach Hause in sein Dorf.

Ein paar Monate, so haben es uns seinen Verwandten erzählt, schlief er ein – und wachte nicht mehr auf. Selten traf ich Menschen mit soviel Liebe und Würde. Ihnen zu begegnen, macht kleine Momenten groß, lehrt Demut und beschenkt reich.

©HeikeRost.com, Kreta 2001